Johanna Ambrosius: Autobiografisches

Von der ersten Ausgabe ihrer Gedichte an war die Person der Autorin neben Ihren Gedichten Gegenstand des Interesses der Leser und Kritiker. Die sehr verbreitete und überall zitierte Darstellung ihres Lebens durch ihren Verleger Karl Weiss-Schrattenthal (zu finden im Vorwort zu ihren Gedichtbänden) muss man allerdings als "Promotion"-Text zur Vermarktung ihres ersten Gedichtbandes einordnen und kann keineswegs als objektive Darstellung ihres Lebens betrachtet werden.

Im folgenden dokumentiere ich 3 autobiografische Texte von Johanna Ambrosius aus den Jahren 1895 bis 1899, die also zu Ihren Lebzeiten erschienen sind. Ob neben Schrattenthal' s Vorwort auch ihre Selbstdarstellung jeweils und in allen Punkten korrekt bzw. wahrheitsgemäß ist, wird von einigen Autoren (Goerth, Rühle, Busse) bestritten. Nach dem Erscheinen dieser Veröffentlichungen (ab April 1896) unter dem Rubrum "Ambrosius-Rummel", die sich stark aufeinander beziehen und die von Avenarius m. E. treffend eingeordnet wurden, erschienen die Texte 2 und 3, die letztlich Reaktionen auf die Kritik an der Inszenierung ihrer Person und der Abwertung ihres literarischen Ranges darstellen. Dazu gab es wiederum Widerspruch von anderen Autoren (Hefty, Grimm etc), und insbesondere eine Stellungnahme ihrer älteren Schwester Martha (demnächst hier zu lesen), die sich ebenfalls gegen öffentliche Verfälschungen Ihres Lebens und Lebenswandels durch die o. g. Autoren richtet. (Autobiografisches aus Briefen wird demnächst ergänzt.)

1

Eine Kleinbauersfrau als berühmte Dichterin
In: Das Land, Das Land. Zeitschrift für soziale und volkstümliche Angelegenheite auf dem Lande. Organ des Deutschen Vereins für ländliche Wohlfahrts- und Heimatpflege, 1895, Jgg. 3 S. 375f.

2

Aus meinem Leben - von Johanna Ambrosius
In: Aus Höhen und Tiefen. Ein Jahrbuch für das deutsche Haus. Herausgegeben von Dr. Karl Kintzel und Ernst Meinke Berlin 1898 S. 317-24

3

Wie ich zur Dichterin wurde. Ein Brief von Johanna Ambrosius.
In: Die Gartenlaube1899_46_nr 28,_S. 506-8

1
[dieser erste Text ist ein Brief an den Redakteur Bruno Wille (u. a. bekannt als Gründer der Volksbühne Berlin und als Mitglied des Friedrichshagener Dichterkreises) und erschien zuerst in "Das Magazin für Litteratur" 64. Jgg. H. 10

Eine Kleinbauersfrau als berühmte Dichterin
In: Das Land, Das Land. Zeitschrift für soziale und volkstümliche Angelegenheite auf dem Lande. Organ des Deutschen Vereins für ländliche Wohlfahrts- und Heimatpflege,
1895, Jgg. 3 S. 375f.

[Bruno Wille]
Johanna Ambrosius:

Eine Kleinbauersfrau als berühmte Dichterin.*)
Sehr geehrter Herr Redakteur!
Ihrer freundlichen Aufforderung konnte ich nicht früher nachkommen, da ich seit vierzehn Tagen krank bin und auch jetzt noch leide. Ich bitte daher, mich zu entschuldigen und Nachsicht mit meinem kurzen Bericht zu haben.
Mein Leben ist genau so wie das jeder andern Frau aus dem Volke, um nichts besser, nichts schlechter. Unter drückenden Verhältnissen groß geworden, empfand ich keine Sehnsucht nach Reichtum und Glanz, nur wissen wollte ich gern alles, alles. Doch dazu fehlte es mir an Zeit und Unterricht. Das Wenige, was ein Kind bis zu seinem 11. Lebensjahre lernen kann, machte mein ganzes Wissen, meine ganze Bildung aus. Vom 13. Lebensjahre las ich dann mit meinen Geschwistern die "Gartenlaube". --Meine Mutter lag sehr viel krank, und da wir ein kleines Grundstück besaßen, mußte ich als Kind schon schwer arbeiten. Von 13 Jahren lernte ich Weben und Spinnen, Nähen, Brotbacken, Melken. Kochen verstand ich auch schon ganz gut, wenn auch manch Gericht verdorben und mit Thränen gesalzen wurde. Man erzählt in einem Märchen, daß die Gold - Marie spinnen mußte, bis ihr das Blut aus den Fingern sprang. Meine Hände waren wohl nie im Winter heil, so blutig zerronnen und geschunden von harter Arbeit. Doch wie streng auch die Mutter uns Mädchen um 4 Uhr aus dem Bette klopfte, wie hart auch der böse Winter 1867 mit uns verfuhr, brachte der Sonntag die "Gartenlaube", dann war eitel Sonnenschein in der kleinen Kammer mit dem einen Fensterlein, darinnen auch noch die Küche sich befand oder besser ein Kamin, darin wir kochten.
Die Poesie verschönte mir auch die härteste Arbeit, und durstig trank das 14jährige Mädchen die "Gisela" von Marlitt.
Man wirft diese liebenswürdige Dichterin jetzt zur Seite, doch ich bin ihr Dank schuldig, daß sie damals ein paar armen Kindern so viel Seligkeit geschenkt. Bis zu meinem 20. Jahre las ich noch das genannte Blatt, dann änderte sich mein Leben, ich verließ das Elternhaus, um als Gattin eines Bauernsohnes, auf unserer Hände Arbeit angewiesen, in eine jener Hütten zu ziehen, wie man sie für arme Leute baut. Ich arbeitete gern, denn ich war gesund und hatte von Kindheit aus große Vorliebe für das Land. Als meine Eltern noch zu Miete in meinem Geburtsorte Lengweten, Kreis Ragnit, wohnten und nur einige Beete Land hatten, ließ ich nicht eher nach, bis man mir ein paar Fuß von dem roten Lehmboden abtrat, den ich dann mit Gilken und Tausendschön, Mohn und Nelken bepflanzte. Ja, ich liebe die Landarbeit über alles und machte mich kaum in der Stadt zurecht finden. Ich denke auch, kein Städter kann den Sonntag so genießen wie wir Landleute. Es überkommt mich immer wie heilige Ruhe, sehe ich die Felder im Schmucke ohne die arbeitenden Menschen. Nur hie und da geht einer in Hemdsärmeln, sein Jüngstes wohl an der Hand, durchs Getreide und prüft die Kerne, schält wohl auch schon den Ertrag.
Von meiner Verheiratung an wohnte ich mit armen Tagelöhnern zusammen. Mein Stübchen war ohne Dielen, die Stühle versanken in der weichen feuchten Erde. Sah auch die Not oft durchs Fenster, und wollte manchmal der Mut sinken, es ging doch weiter. Fremd war ich unter den Leuten, fremd jedem, jedem. Den Glauben, daß es was Besseres, Schöneres gäbe als Essen und Trinken, konnte ich nicht aus der Brust reißen. Kein Buch, keine Zeitung ist mir 12 Jahre lang in die Hand gekommen. Vier Bände „Gartenlaube" erhielt ich von Hause, als ich schon 10 Jahre verheiratet war. Das war alles, was ich besaß, doch auch dieses las ich nicht, mein Auge und Herz las in der Natur, las in der Seele des Volkes, die ich genau studiert und kenne. Ich habe alles ertragen an Demütigungen, was überhaupt die Armut ertragen kann. Mit Ekel und Abscheu sah ich das Gemeine, mit unendlichem Mitleiden das Elend der Armen. Ich sah die Genügsamkeit unter den Leuten, edle Züge der Barmherzigkeit, daran sich manch Gebildeter ein Beispiel hätte nehmen konnen.
Das große Elend öffnete mir die Augen, gab mir Antwort aus manches eigene "Warum.?" Das „Unverstandensein" öffnete den Quell der Poesie mir im Herzen, und ohne auch nur ein Maß oder eine Form zu kennen, brach im Herbst 1884 mein erstes Lied sich Bahn.
Nicht die paar Bände „Gartenlaube", nicht die drei oder vier Gedichte, welche ich darin gewesen, machten mich zur Dichterin, ganz allein der "Schmerz". Das wird jeder empfinden, der meine schlichten Lieder liest. ohne zu wissen, daß es eine Dichtkunst gibt, habe ich mit dem Gefühl gewußt, was richtig und falsch ist.
Zumeist summte ich mir eine Melodie. Mein Ohr ist sehr empfindlich für ein störendes Lautchen, und so wie ich mein Fühlen und Denken im ersten Augenblick ausspreche, so ist’s am besten. Jch dichte im Stall, auf demFelde, in der .Küche, allüberall.
Seit 1883 bin ich hier in einem Dorfe von 700 Seelen. Unser kleines Besitztum forderte fleißige Arbeit, und freudig habe ich mein eigen Stückchen Land ausgenützt. Setzt vier Jahren jedoch leide ich infolge derInfluenza, und nur mit großer Qual kann ich dem mir zugewiesenen Teil als Hausfrau nachkommen. Früher habe ich gedroschen aus der Tenne, und ich verstehe auch eine regelrechte Garbe zu binden. Ja, ich mähe selbst das Gras für die einzige Kuh, wenn mein Mann nicht zu Hause ist. Das macht mir Vergnügen, wenn der Nachbar in seiner litauischen Sprache mich fragt, ob es auch gut schneidet. Doch ohne Schmerz bin ich keinen Augenblick.
Seit einmal die Poesie ihren Weg gefunden, kam Lied um Lied. Es sind wohl mehr denn 500. Ich kenne jedes genau, weiß auch, wobei ich sie gemacht, ob da oder da. Nachdem ich 200 Gedichte fertig hatte, sandte meine Schwester Martha einige an Redaktionen ein. Sie wurden gedruckt, aber niemandem fiel es ein, trotzdem alle meine Lage und Verhältnisse kannten, etwas weiter für mich zu thun. Schon wollte ich die Lieder bei Seite legen; doch ich habe zwei Kinder, ein Mädchen von 19 und einen Buben von 16 Jahren, dieie sollten die Früchte meines Geistes genießen. Es wäre wohl damit nichts erreicht, hatte nicht Gott der Herr mir einen Mann in den Weg gesandt, der wirklich einzig dasteht. Durch eine Probenummer, welche Herr Professor .Carl Weiß-Schratteuthal in Preßburg mir zusandte, wurde ich mit genanntem Herrn bekannt, und es dauerte nicht lange, da bot mir dieser edle Menschenfreund seine hilfreiche Hand. Mein Büchlein kam in den Weihnachtsfeiertagen zur Ausgabe, und in drei Tagen war es vergriffen. Die 8. Auslage ist jetzt im Buchhandel. Die vielen, vielen Briefe, die mir aus allen Teilen Deutschlands, aus England, Rumänien, Rußland, Osterreich ja, selbst Amerika zugegangen und noch zugehen, zeugen von dem großen Interesse, welches meine schlichten Lieder geweckt.
Wenn ich so an meinem selbstgewebten Kleide heruntersehe und meinen Blick durch das dürftig ausgestattete Stübchen schweifen lasse und dann die Briefe lese, welche mir hohe Herrschaften schreiben, und die schonen Geschenke und Gedichte betrachte, damit man mich beglückt, dann kommt mir alles wie ein Märchen vor. Das arme Handwerkerkind, welches nur fünf Jahre die Dorfschule besucht, die arme Frau, welche barfuß auf dem Felde im Regen und Sonnenschein gearbeitet, ist durch Gottes gnädige Hilfe und durch ein edles, liebevolles Menschenherz bekannt geworden als deutsche Volksdichterin. Sieben Lieder sind von der Frau schon komponiert, in der niemand im Dorfe bis heute etwas anderes sah als eine arme Frau. Immer entstehen noch neue Lieder. Meine Phantasie arbeitet rastlos, endlos. Sie ist meine stete Begleiterin, wo ich geh und stehe.
Bin ich auch körperlich gebrochen, die Seele ist und mächtig.
Mein Stolz ist, daß ich ein Weib aus dem Volke bin, einfache ungebildete Bauersfrau. Was ich von der Welt gesehen ist meine enge Heimat. Ich bin nie darüber hinausgekommen. Ich bin 40 Jahre alt, geb. am 3. August 1854, und das zweite Kind armer Handwerksleute. Ja, ich kann wohl aus vollem Herzen sagen: Der Herr hat Großes an mir gethan. Ehre sei Gott in der Höhe!
Gr. Wersmeninken, Post Lasdehnen (Ostpr.)
Johanna Ambrosius.

2

Aus meinem Leben
von Johanna Ambrosius
In:
Aus Höhen und Tiefen. Ein Jahrbuch für das deutsche Haus. Herausgegeben von Dr. Karl Kintzel und Ernst Meinke Berlin 1898
S. 317-24

Mein Leben ist ein einfaches Märchen. Ich bin zweites Kind armer ehrlicher Handwerksleute am 3. August 1854 zu Langwieten, Kreis Ragnit, geborgen, genoß daselbst die vortreffliche Schule bis zu meinem 11. Lebensjahre. Eine weitere Schulbildung ist mir nicht geworden; ich habe mit dem wenigen, was ein Kind bis seinem 11. Jahre lernen kann, haushalten müssen mein Leben. Jch war viel krank, klein und schwächlich. Die Eltern verzogen mich, weil ich hübsch zu werden versprach und einen unverwüstlichen Humor hatte. Die Nachbarinnen liebten mich, die Schulkameradinnen fürchteten mich; denn ich ließ mir keine Feder aus der Krone ziehen. Umschwärmt wurde ich von den Knaben des Dorfes, denen ich eine vortreffliche Anführerin zu allen Spielen -- und auch Streichen war. Das war einige sonnige, glückliche Zeit -- die erste Jugend; doch schnell, sehr schnell und früh trat der Ernst des Lebens an mich heran. Meine Eltern verließen Langwieten und kauften ein kleines altes Häuschen und einige Morgen Land mit wenigem Felde. Sie rechneten auf die Kinderschar, die aus meiner dreizehnjährigen Schwester Martha, mir und dem neunjährigen Bruder und zwei Babys bestand .Wir sollten das Land bearbeiten; denn die Mutter war fast immer kränklich; ich kann mich nicht erinnern, daß sie je Feldarbeit machen konnte. Der Vater betrieb sein Handwerk vom Frühling bis spät in den Herbst außer dem Hause. So lernte ich früh hart und schwer arbeiten Doch ich liebte das Land und die Landarbeit, und wenn ich auch oft unter der Last geseufzt habe, die süße Sonntags ruhe nach einer arbeitsharten Woche schmecke ich heute noch. Für mich gab es nichts Schöneres, als die Natur zu belauschen in ihrem Sachsen und Melken, in ihren tausendfachen Wundern, davon mir jedes Kraut am Wege predigte. Als ich am 20. September 1868 in der Kirche zu Ragnit als Oberschülerin der Landgemeinde von Herrn Superintendenten Jordan eingesegnet wurde, war ich ein vollkommen reifes Mädchen, das jede Arbeit verstand. Ich webte, spann, kochte, nähte, konnte jede Feldarbeit und jede häusliche leisten.
Das Jahr vorher, 1867, das Notjahr Ostpreußens, steht mir noch treu im Gedächtnis. Da faßte das Mit leid mächtig mein Herz und mag wohl die ersten Spuren der Poesie mir in die Seele gedrückt haben.
Unter Arbeit, wenigen Freuden verrannen die für andre schönen Mädchenjahre. Ein Tag in der Woche brachte aber etwas Köstliches. ,,Die Gartenlaube!" Ob noch so sehr der Boden unter den Füßen brannte, die mußte durchflogen werden, bis die wenigen Stunden am Sonntag Nachmittag ein nochmaliges Lesen erlaubten. Das war Manna für den Geist, der nach Nahrung hungerte und darbte. Alles wurde gelesen, alles war schön. Auch das hörte auf, als ich 20 Jahre alt mich mit einem Bauernsohn Voigt aus demselben Orte ver mählte. Wir hatten beide nichts und mußten nun noch in eine tiefere Gesellschaftsklasse hinabsteigen. Die ersten Jahre vergingen im steten Ringen um das tägliche Brot. Ich wohnte in Hütten, die aller Beschreibung spotten, mit der Hefe des Volkes zusammen; doch auch diese Zeit mir heilbringend, denn tief drang mein Blick in das Seelenleben des .Volkes, das weit schöner und edler ist, als man im allgemeinen glaubt. Nur wer ihresgleichen ist, kann die Armut verstehen, kann sich ein richtiges Urteil erlauben.
Endlich, durch eine kleine Erbschaft meinerseits und durch das rechtmäßige Erbteil meines Mannes wurde es uns möglich, hier in Gr. Wersmeninken, Kreis Pillkalllen, ein kleines Besitztum zu kaufen. Doch ich war fast ein Jahr schon magenleidend gewesen, und so war dieFreude über das eigene Heim eine sehr geringe, da ich, furchtbar geschwächt, kaum gehen konnte. Nun galt es wieder zu sparen, um Zinsen und Abgaben zu erschwingen. Ich war 30 Jahre alt geworden, hatte ein Töchterlein und einen Jungen, die mir eine ganze Welt voll Freude schufen. Meine Verhältnisse erlaubten keine Zeitung, keine Bücher. Wer die Landbewohner Ostpreußens kennt mit ihren Interessen, wird wissen, daß eine Frau in meinem niedrigen Stande geradezu für verrückt erklärt wird, wollte sie um Bücher einen besser Situierten bitten. Ich hatte nichts als meine Einsamkeit, meine lieben Kinder und Arbeit. Verkehr pflegte ich keinen, da mir die Umgebung nicht behagte.
Sehr oft bin ich gefragt worden, wie ich zum Dichten kam. Das kann ich wohl selbst nicht erklären. Nie in meinem Leben vorher habe ich daran auch nur im Traum gedacht, einen zu Reim machen, bis plötzlich es in meiner Seele klang, es flossen Worte mir zum Munde und ich sang und sprach mein erstes Gedicht. Das war im Herbst 1884. Das darauffolgende Lied war wie das erste traurig. Mir war immer, als sollte ich um alle Leidenden weinen, als hätte ich eine Last zu tragen, so schwer wie die ganze Welt. Mich besuchten die Ärmsten der Armen, und einer Bettlerin verdanke ich mein drittes Gedicht, welches in seiner Form wohl viel zu wünschen übrig läßt; aber noch. jeden, dem ich es vorgetragen zu Thränen gerührt hat.
Ich lasse es hier folgen.

Die Bettlerin
Weltentrückt leb ich, esse nur trockenes Brot
Kenn von Jugend auf nichts als die bitterste Not
Hab keinen Vater gekannt nicht Schwester noch Brüderlein
Mütterchen schlief mir so bald auf dem Strohlager ein
Wurde von Freunden gestoßen von Niemand begehrt
Arbeit und Hunger hat man mich kennen gelehrt
Mein Herz ist geworden darob so wunschlos und leer
Daß ich zur Bettlerin wurde wundert’s Euch sehr
Will mich doch Niemand behalten so muß ich wandern
Schleppe den kranken Leib von einem zum andern
Regen peitscht mir den Kopf, Füße brennen im Sand
Der Leere Korb wird zu schwer für die zitternde Hand
Ich seh nur hinauf in die Höh und bet’ mit ergebenem Sinn
Dank Dir o Gott, dass wieder ein Tag ist dahin.—
Weltentrückt sterb ich von Niemand beklagt und beweint
Willkommen Tod warum hast Du so lange gesäumt.
Fest halt ich Dich bitt meine Lippen zum Kuß
Ich gehe mit Freuden hinab nicht weil ich muß
Du stossest mich nicht zurück nimmst mich in Deine Arme
Machst meine Seele frei von allem Erdenharme
Was kümmern mich Menschen bin ich doch frei aller Sorgen
Der Erde ists gleich ob in Seid’ oder Lumpen geborgen
Abseits von allen ist für uns Armen ein Raum
Wo kein Gras grünet kein schattenspendender Baum
Fühllose Herzen graben lärmend mein Grab
Harte Schollen wirft manmir eilig hinab
Wieder ’ne Bettlerin los! rufen sie fröhlich sich zu
Doch ich, ach ich tausche mit keinem um meine Ruh’.

Ich freute mich allein mit diesem Geschenk, denn meine Kinder waren noch zu klein und die Gedichte zu ernst für glückliche Kinderaugen. Später zog ich, wie ich es auch jetzt thue, immer meine Tochter zu Rate. Sie überredet mich mit ihrem Urteil und der richtigsten Meinung, die nur ihrem Gefühl entspringt. -- Nachdem einmal Bahn gebrochen war, kamen immer neue Melodieen. Alles was mich bewegte, erhielt Ausdruck. Ich sah nichts jahraus, jahrein wie die Felder und den Wald grünen, blühen und sterben. Aber was braucht man auch weiter? Die Phantasie ersetzt alles. Sie zauberte mir aus einer Welle das große gewaltige Meer, und giebt es wohl etwas Schöneres als den Himmel mit seinen Wolken, Sternen und Monden? Giebt es schönere Gemälde, als ein reines süßes Kinderangesicht, dem Gott seinen Stempel aufgedrückt? Mir bleibt von allem Schönen der Mensch das Schönste, und den finde ich überall.
Nachdem ich eine größere Anzahl Gedichte niedergeschrieben, sandte ich sie an meine Schwester Martha. Diese gab einige davon an die Redaktion ,,Von Haus zu Haus", welche auch bereitwilligst sie aufnahm. von ihnen füge ich bei.

Weine nicht.
Höre was der Glocken Weise
Zu dir spricht:
Ungestümes Herz, poch' leise,
weine nicht!
Bring' dem heissen Tage Friede
Schließ ihn zu,
Trag' auch dich mit meinem Liede
Einst zur Ruh'.
Tröstend schall'n die Vögelstimmen:
Habe Mut!
Unserm Vater Dank wir bringen,
Er ist gut,
Läßt durch laue Lüfte künden
Uns die Spur;
Auch Du wirst die Heimat finden.
Glaube nur!
Rauschet nicht das Laub im Haine:
Sei getrost!
Du nur bist von uns alleine
Ausgelost.
Was dir auch zum Glücke fehle,
Was gebricht,
Du allein hast eine Seele, Weine nicht!

Am Neujahrstage 1890 erkrankte ich an der Influenza und lag sehr schwer krank bis zum März. Von der Zeit an war der Rest meiner Gesundheit so geschwächt, daß ich nur mit brennenden Schmerzen die Feldarbeit richten konnte. Ich wagte es, da mein Name in "Von Haus zu Haus" oft genannt war, und ich Probenummern von andern Zeitschriften erhielt, nun auch bei größeren Blättern meine Gedichte einzusenden und legte immer eine kurzze Biographie bei. Manche nahmen Gedichte an, aber Honorar gab es selten, und die meisten sandten mit kalten Worten mir die Sachen zurück. Da -- nochmals hatte mich die Influenza Neujahr 1894 wieder gefasst -- erhielt ich eine Probenummer von Herrn Professor Weiß-Schrattenthal aus Preßburg mit gedruckter Aufforderung um Einsendung dreier Gedichte. Ich schrieb sofort, bekam gleich die Aufforderung, mehr zu senden und -- ich hatte den braven Mann gefunden, der mich ans Land zog. Meine Krankheit zog sich bis Ostern hin und verhinderte vieles. So kam zu Weihnachten die erste Auflage meiner Lieder auf den Markt. Herr Professor Schrattenthal hat keinerlei Bezahlung verlangt oder angenommen, hat nur seine 15 Freiexemplare von jeder Auflage erhalten. Die Gerüchte, von einem Feinde meiner Eltern ausgestreut, sind die reine Lügensaat.
Was wäre jetzt noch zu sagen? Wie ein Bach, der vom Eise befreit, schäumend und sprudelnd durch die blumigen Felder läuft, sind mir Briefe, Gedichte, Geschenke, Ehren über Ehren zugeflossen. Mein Name ist um die Erde gegangen und hat mir Freunde vom Thron bis zur Hütte erworben. Doch, es ist nicht mein Verdienst. Es kommt alles von Gott. Er ließ mich dunkle Wege gehen und alle Trübsal, alle Bitterkeit trinken : er drückte mich tief zu Boden, um mich hoch zu heben, ihm sei Ehre in Ewigkeit!
Ich lebe in einfachen Verhältnissen weiter, habe meine Tochter bei mir -- der Sohn ist im Seminar zu Ragnit und freue mich auf das Glück meiner Kinder.
Ich habe schöne Gegenden gesehen, der Alpen vielbesungene Pracht und herrliche Städte mit ihren Kunstwerken. Doch wenn ich nach Hause zurückkehre, umfaßt mein Auge sehnsüchtig die süße Heimat, mir ist, als lege sich eine weiche kühle Hand auf meine Stirn, als fände ich in meiner "kleinen Welt" nur die Quelle der Poesie.

3

Wie ich zur Dichterin wurde.
Ein Brief von Johanna Ambrosius.
Vor fünf Jahren brachte die „Gartenlaube“ den ersten Hinweis auf eine Dichterin, welche von Jugend auf in ländlicher Abgeschiedenheit gelebt hatte und als schlichte Bauernfrau in einem ostpreußischen Dorfe zu einem Talent herangereift war, das allgemeine Beachtung verdiente. Professor Karl Weiß-Schrattenthal, der sich bereits um die Gedichte von Katharina Koch ein ähnliches Verdienst erworben hatte, kündigte damals an, daß er im Begriff sei, der leidenden, in ärmlichen Verhältnissen lebenden Frau durch die Herausgabe ihrer Gedichte helfend beizustehen (vgl. Jahrgang 1894, S. 644). Unter den interessanten Mitteilungen über Johanna Ambrosius, die er unserem Leserkreis machte, befand sich die Angabe, daß nach der Schulzeit die hauptsächliche Quelle ihrer Bildung die „Gartenlaube“ gewesen sei. Mit warmen Worten rief er für das bevorstehende Erscheinen ihrer Gedichte das Interesse unserer Leser wach. Heute liegt jene erste Sammlung bereits in 36. Auflage vor, während die 1897 zuerst erschienene zweite Sammlung der Gedichte von Johanna Ambrosius nun auch schon die 6. Auflage erlebt hat. Die damals an dieser Stelle ausgesprochene Erwartung hat sich in reichstem Maße erfüllt. Der außerordentliche Erfolg und das begeisterte Lob, das diese unter so merkwürdigen Verhältnissen entstandenen Gedichte fanden, hat inzwischen aber auch Widerspruch geweckt. Die Angaben über den Bildungsgang von Frau Johanna Ambrosins-Voigt sind bezweifelt worden. Unter diesen Umständen hat das schlichte Selbstbekenntnis der Dichterin, das wir nun folgen lassen, doppelten Wert. Es entstammt einem Privatbrief derselben. Der Empfänger war der Schriftsteller Dr. G. Manz in Berlin, der sich nach Einzelheiten ihres Lebensganges erkundigt hatte. Die anregende lebenswahre Art, in der die schlichte Bauernfrau ihren dornenreichen Lebensgang erzählt, erschien dem Empfänger so fesselnd, daß er von der nachträglichen Erlaubnis, den Inhalt des Briefes in passender Form bekannt zu geben, am besten durch die Veröffentlichung in der „Gartenlaube“ Gebrauch zu machen glaubte. Der ungeschminkten Darstellung gegenüber, die Frau Ambrosius selbst von sich und ihren Schicksalen entwirft, würde jedes Wort des Kommentars abschwächend wirken. Mögen diese Bekenntnisse einer Schwergeprüften ihr zu den alten noch recht viel neue Freunde erwerben.
Der Brief lautet:
Mein Gedächtnis reicht weit zurück. Ich war geliebt von allen, die mich kannten. Meine Eltern waren stolz auf mich, denn ich soll schön gewesen sein, und die schlagfertigen Antworten, die ich bei jeder Gelegenheit gab, machten, daß sie mich verzogen.
Das hörte jedoch auf, als die Zahl der Geschwister sich mehrte. Das Lernen war mir eine Lust. Ich weiß noch, wie heute, mich meiner ABC-Fibel zu erinnern und das Ba, be, bu klingt mir oft in den Ohren. Unser Lehrer, ein Mann, der seiner Zeit weit voraus lebte und noch heute im Amt ist, hatte mich gern. Meine Schwester Martha, welche mir geistig bedeutend über ist, war wohl seine beste Schülerin. Daß die Kinder Ambrosius – Bruder Ewald mitgerechnet – sich hervorthaten, erweckte Neid, wie immer. Wir wurden schon damals gehaßt von den Nachbarsmüttern, deren Töchter unter uns saßen. Ich war klein und blaß. Fast jeden Winter wurde ich von einer Krankheit heimgesucht und mußte die Schule versäumen. Wir lernten damals sehr viel Religion und sehr viel auswendig. „Roland der Schildträger“ sprach ich nicht gedankenlos hin, nein, alles, was ich las, stand vor mir. Zu Handarbeiten hatte ich keine Lust. Puppen und Mädchenspiele liebte ich nicht. Zumeist trieb ich mich auf dem Felde oder im Walde herum – oder in Genossenschaft einiger Buben. Die Natur, das Land liebte ich schon damals leidenschaftlich. Meine Eltern hatten ein wenig roten Lehmboden gepachtet, und inmitten von Kartoffeln und Hafer machte ich mir ein Blumenbeet. Meine Freude über das
Wachsen und Blühen, das ich täglich mehrere Male beobachtete, war mir genug. Im August hatte ich das 11. Lebensjahr zurückgelegt, am 15. September verließen meine Eltern Lengweten (im Kreise Ragnit), wo ich geboren bin und die schönste Zeit meines Lebens verbracht habe.
Mein Vater las in den Wintermonaten Bücher aus der Leihbibliothek. Ich als elfjähriges Kind, das sehr viel Schulaufgaben zu machen hatte, habe nie in die Bücher geschaut, auch wurde es uns nicht erlaubt. Es war auch so lustig, bei der jungen Dienstmagd zu sitzen und deren Märchen und Lieder zu hören…
Meine Eltern waren beide arme Leute, als sie sich heirateten; Mutters Eltern sehr begabt, ihre beiden Brüder außergewöhnlich talentvolle Männer. Beide starben unvermählt in den besten Jahren. Der jüngste Bruder Mutters kam nach dem dänischen Kriege eine Zeit lang in unser Haus. Von ihm habe ich viele Lieder singen gelernt und viele Erinnerungen sind mit ihm verknüpft. Von meinem Vater habe ich das gute Gedächtnis wie die Züge, doch das Talent zum Fabulieren entschieden von Mutter und deren Familie. Mein Großvater mütterlicherseits war beliebt wegen seines urwüchsigen Humors.
Als meine Eltern Lengweten verließen, wußte ich noch nicht, was ich verloren. Die Schule in Titschken, dem neuen Wohnort, hatte mir nichts zu bieten. Kaum war mein Geist geweckt, kaum konnte ich einen halbrichtigen Aufsatz verfassen, mußte mein ganzes geistiges Leben gehemmt werden. Ich werde es nimmer, auch wenn ich hundert Jahre alt werde, verschmerzen, daß ich nicht richtig schreiben und sprechen lernen konnte. Schwester Martha dagegen, welche zweieinhalb Jahre älter denn ich war, beherrscht vollkommen die Rechtschreibung und führt einen brillanten Stil. Ich bin ein Nichtschen gegen Martha. Nun war mein Schulbildungsgang geschlossen, ein Weiteres gab es nicht mehr. Doch, konnte ich den Wissenshunger nicht stillen, gab es draußen Schönes genug zu sehen und zu hören. Meine Phantasie machte aus dem Kleinen sich das Große. Nie bevor ich im Jahre 1895 die Welt kennenlernte, habe ich eine See, eine Düne oder schöne Kunstsachen gesehen. Und doch sah ich alles in meinen Träumen viel schöner, als die Wirklichkeit es mir gezeigt. Daher überrascht mich nichts und imponiert mir nichts. So anmaßend es klingt, es ist aber so …
Die Zahl der Geschwister war auf sieben gestiegen, das kleine Besitztum der Eltern noch nicht halb bezahlt, da kam der grausame Winter 1867 mit seinem mir unvergeßlichen Jammer. Da sah ich die Not, die Landesnot! Schnee und Eis soweit die Blicke gingen, kein Vogel, kein lustiges Klappern der Dreschflegel! – Die Wege voll zerlumpter, frierender Menschen. Meine Eltern beide krank. Das neugeborene Schwesterchen wurde von Martha erzogen. Ich, augenleidend, saß an der Wiege, doch spann ich in dem Winter mein erstes Garn. Den Wocken erhielt ich zu Weihnachten und besitze ihn heute noch …
Und doch, so viel Jammer auch bei uns war, meine Natur ist nie darin stecken geblieben, immer wußte ich die Geschwister und Eltern durch Erzählungen und drollige Einfälle aufzuheitern. –
Im Herbst 1868 wurde ich eingesegnet und stand in der Mädchenreihe der Landgemeinde oben als Nummer eins. Jetzt kam die „Gartenlaube“, die unser geliebter Herr Präzeptor in Lengweten hielt, in unser Haus. Marlitts Geschichten entzückten die jungen Mädchenherzen. Doch wir lasen alles andere auch mit großem Interesse und folgten aufmerksam jeder Schilderung. Ich besaß eine große Vorliebe für die Gutzkowschen Briefe und historischen Sachen. Auch Herman Schmids Geschichten ergötzten mich. Sieben Bände „Gartenlaube“ sind von mir gelesen worden. Es mag wohl gut sein, wenig und Gutes zu genießen; zu viel möchte ich nie, weder geistige noch leibliche Speise haben.
Arm waren und blieben wir, und verhöhnt wurden wir von allen kurzsichtigen Bauern, unter denen wir wie andere Vögel lebten. Mit zwölf Jahren konnte ich Brot backen, melken und alle groben Arbeiten. Spinnen und weben lernte ich ein Jahr darauf. So unter Arbeit und wieder Arbeit verrann die Zeit. Es behagte mir nicht länger zu Hause, ich ging als Wirtschafterin auf einige Stellen, kehrte aber bald zurück aus eigenem Antrieb, da ich mehr sah, wie ich sehen wollte. Ideale sanken und ich stand vor der Wirklichkeit, die mir nicht gefiel. Zum erstenmal lernte ich auch das Ungeheuer, die gesellschaftliche Lüge kennen.
Ich vermählte mich, 20 Jahre alt, mit dem Sohn eines Bauern. Wir waren beide arm, da beide Eltern uns nichts geben konnten. So zogen wir zu meiner Großmutter, welche ein Häuschen und ein kleines Feld hatte, und nahmen dieses in Pacht. Es reichte natürlich nicht zum Leben und mein Mann hat für wenige Pfennige den Tag im Winter gedroschen, ich machte Handarbeiten für die Bauerstöchter. Die Jahre waren unbeschreiblich. Dazu war jede geistige Nahrung fort …
Ich lebte ganz weltverloren in der Hütte. Mein Mann verdiente ein Jammergeld. Begegnet Ihnen einmal eine höchst ärmlich gekleidete Landfrau mit einem Tuch um den Kopf, dann denken Sie, so ging Johanna Ambrosius einst. Ich kenne die Schule des leiblichen und mehr noch des geistigen Elends von Grund auf. Und wer Seele von Seele unterscheiden kann, wird auch wissen, daß beides gleich drückt. Nie ist mir damals, noch früher eingefallen, einen Vers zu machen, doch mein Herz hat immer gedichtet. Jede Ruhepause schaute ich in die Weite und suchte die Schönheit der Natur zu meiner Gesellschaft. Ich konnte den ganzen Sonntag Nachmittag auf einem Grabenrand sitzen und in das wogende Feld schauen oder einem Würmchen zusehen, wie es unermüdlich einen Grashalm zu erklettern suchte. Geistige Anregung, Bücher, Zeitungen waren unerreichbare Wünsche. Man meint, ich hatte Bibel und Gesangbuch, auch das nicht. Ein Gesangbuch hatte ich wohl, eine Bibel kostete Geld, und wo sollte ich es hernehmen?
Wir verließen nach dem Tode meiner Großmutter das Dorf und zogen nach Alxnupönen, einem reizend gelegenen Dörfchen hinter Lasdehnen, hart an der Scheschuppe. Daselbst lebten wir noch zweieinhalb Jahre mit Holzfällern zusammen in einem Hause in Armut und Not. Die Natur – es ist nahe an der polnischen Grenze – ist hier besonders schön. Der rauschende von lieblichen Ufern umgebene Fluß war bald mein bester Freund, und manches Bild habe ich damals in die Seele aufgenommen, welches erst so spät zum Ausdrucke kommen sollte.
Endlich gab mein Schwiegervater, der mit seiner Familie mir geistig völlig fremd stand, die Wirtschaft dem ältesten Sohne ab und mein Mann erhielt 500 Thaler. Ich bekam gleichfalls 200 Thaler, da meine Mutter eine Erbschaft gemacht. Mit diesem Gelde kauften wir in Wersmeninken unser 8 Morgen großes Besitztum für 1400 Thaler. Ich war damals sehr magenleidend, abgezehrt zum Skelett. Jetzt hieß es wieder sparen, um die Zinsen und Abgaben zu bestreiten. Doch ich hatte mein eigen Land, mein eigen Haus! Wer kann mir nachfühlen, wenn ich naßgeregnet vom Felde kam und ein Stück trocken Schwarzbrot mit Milch auf der Schwelle des Hauses verzehrte? Wer weiß von dem stillen Glück, wenn ich nach meinen saubergehaltenen netten Kindern ausschaute und ihr Vesperbrot zurechtlegte? Meine lieben guten Kinder waren mir alles und sind mir alles. –
Es war im Oktober 1884. Noch immer hatte ich kein Buch außer Kalender und Bibel, welche ich mir gekauft, und Gesangbuch im Hause, ich sehnte mich auch gar nicht, etwas von „draußen“ zu wissen. Da kam mir, vom Schmerz des Unverstandenseins ausgepreßt, eine Melodie mit Worten in den Mund. Ich sang und sprach zugleich das, was mich bewegte und quälte, aus. Dieses Lied findet sich im 2. Band meiner Gedichte. Es lautet:
„Wen hat man geschlagen, wie man mich schlug?
Wer hat getragen, was ich ertrug?
Ich würde nicht weinen in heißem Schmerz,
Fand’ ich auf Erden ein gleiches Herz!

Das getroffene Wild, es darf doch schrei’n,
Wenn die Kugel ihm dringt ins Herz hinein,
Den Sklaven brennt Fessel und Peitschenhieb,
Und doch träumt er von Freiheit und Lieb.

Nur du, Herz, mußt sein geduldiglich,
Kein Freiheitsschein darf locken dich,
Du darfst nicht schreien in deiner Qual,
Und stirbst du den Tod auch tausendmal.

‚Sei getrost,‘ ruft mir oft eine Stimme zu,
,Habe Mut, ertrage alles in Ruh,
O rütt’le nicht an der Fessel so sehr,
Sie schneidet nur und schmerzt noch mehr.’

Und soll ich sie tragen mein Lebelang,
So ist der Seele darob nicht bang:
Nicht murren will ich, o Herr, es sei:
Nur in der Ewigkeit mach’ mich frei! …“